Was Ambiguitätstoleranz eigentlich meint
Ambiguitätstoleranz wird oft mit Unentschlossenheit verwechselt, doch das trifft nicht den Kern. Die Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit, mehrdeutige, widersprüchliche oder unklare Situationen innerlich auszuhalten, ohne vorschnell in Ordnungssysteme zu flüchten. Ohne zu werten, zu übergehen oder zu erklären. Es ist ein Raum, den du für deine Gedanken offen hältst, obwohl der Druck steigt, ihn zu schließen. Und genau in diesem Raum entsteht oft die Klarheit, die du anfangs vergeblich gesucht hast.
Beispiel: Pitch und Produkt
Eine Gründerin pitcht ihre Idee vor Investor:innen. Die Story ist klar, das Problem gut skizziert, die Vision überzeugend. Im Anschluss fragt jemand nach dem Status der technischen Umsetzung. Sie zögert kurz, antwortet dann diplomatisch: "Wir sind mitten im Entwicklungsprozess." Tatsächlich funktioniert das System noch nicht stabil. Intern wird noch um Grundsatzentscheidungen gerungen. Und trotzdem war es richtig, den Pitch zu halten. Die Begeisterung ist da. Das Echo auch. Nur: Das heißt nicht, dass das Produkt schon bereit ist.
Was an dieser Stelle hilft, ist keine kosmetische Korrektur. Sondern die Fähigkeit, beides nebeneinander stehen zu lassen: Das Interesse der Stakeholder und parallel die Unfertigkeit des Produkts. Beides ist real. Beides braucht Aufmerksamkeit. Wer jetzt anfängt, eines gegen das andere aufzurechnen, verliert das Ganze aus dem Blick.
Nicht auflösen, was noch nicht fertig gedacht ist
Ein Klassiker im Team: Zwei Personen bringen unterschiedliche Lösungsvorschläge ein, beide sind plausibel, aber noch unfertig. Die Diskussion verheddert sich. Es entstehen Fraktionen. In solchen Momenten ist es verlockend, einfach zu entscheiden. "Wir machen es, wie A gesagt hat." Thema abgeräumt. Weiter im Text. Doch mit einer vorschnellen Entscheidung kannst du die ideale Lösung ungewollt killen.
Was wäre, wenn beide Lösungsvorschläge etwas enthalten, das sich später als wertvoll herausstellt? Ambiguitätstoleranz bedeutet, unterschiedliche Positionen zu würdigen und ernst zu nehmen, auch, wenn dies zu Spannungen führt. Ja, das kostet Zeit, Überarbeitungsschleifen und die Bereitschaft, eine Sache aus mehreren Perspektiven intensiv zu betrachten. Das braucht Mut und Vertrauen, dass ein solches Vorgehen kein Stillstand ist, sondern eine Methode der bewussten Differenzierung.
Wenn Kundenwunsch und Identität kollidieren
Ein Kunde macht dir ein Angebot, das fachlich passt, gut bezahlt ist und dein Portfolio nach außen stärkt. Trotzdem spürst du von Anfang an: Etwas stimmt nicht. In den Gesprächen wirkt der Ton kühl, die Erwartungen bleiben vage. Es gibt keine offenen Konflikte, doch die Zusammenarbeit erzeugt ein spürbares Unbehagen.
Du sagst zu, wirtschaftlich ist das nachvollziehbar. Doch während der Zusammenarbeit wirst du stiller. Du erklärst mehr, passt dich an, ziehst dich innerlich zurück. Nicht weil dir etwas fehlt, sondern weil du dich verformst. Die Arbeit funktioniert zwar, aber sie passt nicht zu dir.
Solche Situationen sind kein Drama, doch du kannst sie als ein Warnzeichen betrachten. Ambiguitätstoleranz bedeutet hier, genauer hinzuschauen und dich zu fragen: Welche Kompromisse kann ich eingehen, ohne mich zu verlieren? Und was weist mich darauf hin, dass ich mich gerade gegen mich selbst entscheide?
Nicht jede Irritation erfordert eine Kurskorrektur. Aber sie verdient Aufmerksamkeit. Manchmal reicht es, innezuhalten und zu prüfen, ob du noch in die Richtung gehst, für die du angetreten bist. Manchmal hilft schon ein kurzer Abgleich mit dem eigenen Kurs, um wieder klarer zu sehen.
Versteckte Probleme im Team sichtbar machen
Und dann gibt es Situationen, in denen die Ambiguität nicht im eigenen Bauchgefühl liegt, sondern im Zusammenspiel mit anderen. Was Teams ausbremst, sind oft nicht große Konflikte, sondern die kleinen, schleichenden Unklarheiten: Wer übernimmt Verantwortung für was? Ist etwas abgeschlossen oder nur angestoßen? Warum bleibt eine Irritation unausgesprochen, obwohl sie längst in der Luft liegt?
Ambiguitätstoleranz bedeutet, diese Zwischentöne und Differenzen ernst zu nehmen. Sie müssen nicht sofort geklärt werden, aber sie dürfen sichtbar sein. Ein Satz wie „Ich habe den Eindruck, dass wir mit unterschiedlichen Vorstellungen arbeiten“ kann reichen. Er schlägt eine Brücke zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und ermöglicht eine konstruktive Zusammenarbeit.
Was Ambiguitätstoleranz nicht ist
Sie ist kein Aufschieben, kein Ausweichen und sicher kein Zögern aus Angst. Sie ist ein bewusstes Zulassen von Mehrdeutigkeit, ohne sie sofort zu beenden. Wer Ambiguitätstoleranz lebt, trifft durchaus Entscheidungen zu gegebener Zeit. Die Entscheidungen fallen aber nicht vorschnell aus den falschen Gründen, etwa um einer belastenden Komplexität zu entkommen. Sie fallen erst, nachdem die Ambiguität genau betrachtet, die Möglichkeiten gegeneinander abgewogen und vielleicht sogar noch weitere Ideen entwickelt und für gut befunden wurden.
Wie du diese Fähigkeit kultivierst
Fähigkeiten werden durch Praxis erworben. Du baust deine Ambiguitätstoleranz auf, indem du beginnst, Unklarheit als Teil deiner Arbeit zu akzeptieren. Trainiere bewusst, Widersprüche nicht sofort aufzulösen, sondern zu beobachten, was sie mit dir machen. Indem du Gespräche führst, in denen du keine Meinung verteidigst, sondern Resonanz suchst. Und indem du dir selbst zugestehst, dass Entwicklung manchmal bedeutet, noch nicht zu wissen, wohin es geht.
Man kann Ambiguität nicht managen. Aber du kannst lernen, mit ihr zu leben, ohne dich zu verlieren. Und genau das hält dich in einem agilen Umfeld, das dauernd die Spielregeln ändert, handlungsfähig.